...kurz nachgerechnet, aber: es stimmt. Von den letzten 12 Monaten war ich 6 nicht zu Hause. Sondern in Thailand, in Kambodscha, in Niedersachsen, im Ruhrpott, im Rhein-Main-Gebiet, in Berlin, in Ostbayern. Verdammt, ich hätte untervermieten sollen! Und da wunderte ich mich kürzlich erst, dass ich so routiniert packe und Wohnung abschließe, es kommt wohl nicht von ungefähr.
Ich glaube, jetzt bleibe ich erst mal hier. Zumindest für ein paar Wochen oder eine Weile. Und denke darüber nach, was Berlin bedeutet. Für die Welt, das Land, die Menschen oder für mich? Naja, für die Welt nur ein bisschen. Aber für das Land: Wenn unser Staats- und/oder Sozialsystem und/oder Wirtschaftssystem jemals vor die Hunde geht und ein Aufstand losbricht, dann wird der Aktionsradius in Berlin starten. Dem Schmelztiegel aus Zeit, Unbeschäftigung, Drogen, Recht der Stärkeren, Aufbruch, Einbruch, Umbruch, Kapitalismus und Ideologie. Ganz zu schweigen von der Gentrifizierung, die sich ganz neue Gebiete einverleiben wird.
Unerwegs, immer wieder am Kottbusser Tor, in der U-Bahn ganz hinten: am Bahnsteig stehen / sitzen / liegen die verkrachten Gestalten, die sich an der nächstbesten Alkoholflasche festhalten und zwischen Coolness und dringendem Drogenbedarf schwanken. Letzteres übrigens ganz wörtlich. Die Frage drängt sich auf: was oder wie wären diese Menschen, wenn sie keinen Zugang zu Rauschmitteln hätten? Der positiv-naive Part in mir denkt zunächst: sie würden aktiv werden, ihr Leben in die Hand nehmen, ihr Glück machen. Die Realität wäre vermutlich eine ganz andere. Eine aggressivere. Ohne die betäubende Wirkung, wird das Elend und bestehende Ungerechtigkeit nicht viel härter? Also: aufbegehren, blind losstürmen, drauflosjagen. Nein, auch keine Lösung. Also bleibt es wohl ein gewisses Kalkül, dass gerade in den Brennpunkten Laisser-Faire den Stil der Obrigkeit prägt.
Erstaunliche Tendenz: die Bettler, Schnorrer, Penner und Punks haben einen Wettbewerb unter sich geschaffen, bei dem Freundlichkeit siegt. Es wird was geboten für's Geld, von Gedichten über selbstgeschriebene Songs und hin zu meinem persönlichen Highlight, dem Trio mit dem Kontrabass und der tollen Version von "Jungle Drum". Oder einfach nur der freundliche Frierende, der die Tür zum Bankvorraum öffnet in der Hoffnung, nach erfolgreichem Besuch am Geldautomaten ein paar Münzen abzubekommen.
Die Ironie dazwischen: "Kopf hoch!", auf den Boden gesprüht, irgendwo geht es eben doch immer bergauf.
Jetzt, wo es saukalt geworden ist, bin ich abgestumpft und zurück in der Vorortsiedlung. Und hoffe, dass sie in Berlin die Obdachlosen in den U-Bahn-Eingängen schlafen lassen, damit wir keine negativ-Rekorde wie in der Ukraine beklagen müssen...