Mit 6 schien die Welt noch voller Ideale zu sein, oder vielleicht (höchstwahrscheinlich) war ich nur voller Idealismus. Wie dem auch sei, der Glaube an den Weihnachtsmann war zwar schon passé, nicht aber die Überzeugung, alles zu können wenn man nur will, große Liebe, und vielleicht gibt es sogar einen Gott oder so was Ähnliches. Auch wenn mir die Kinderbibel nicht näher erklären konnte, wieso Gott alles sieht, sogar wenn die Rolläden unten sind...
Mit 6 hatte ich tausend Ideen, aber noch keine Ahnung. In dem Alter funktionierte noch die Masche: Wenn ich etwas nicht sehe oder ignoriere, existiert es auch nicht. Anders gesagt: wenn man nicht erwischt wird, ist auch nix passiert. Manche bezeichnen Kinder dieses Alters auch grundsätzlich und pauschal als "unschuldig", was auch nichts anderes heißt als schlicht ahnungslos. Gut, dass das Jahr für Jahr besser wird!
Mit 20 war ich überzeugt vom Ende: Das Ende der Unschuld, das Ende der großen Liebe, das Ende der coolen Partyzeit. Der 20. Geburtstag wurde mit falschen Freunden gefeiert, wie Betrug sich anfühlt wusste ich bereits und die Kombination von Maracuja-Multivitamin-Saft und Asti-Sekt hat es nun wirklich nicht mehr rausreißen können. Größere Zweifel an der Moral der Menschen im Allgemeinen, der Existenz höherer Wesen im Speziellen und nebenbei ein grauslig schlechter Musikgeschmack sorgten dafür, dass früher (= vor 20) nicht alles, aber doch vieles besser war.
20 = der Weg in die Unabhängigkeit! Auto = Freiheit, Fremdsprachen = Erfahrungen in aller Welt, Ausbildung + Job = Weg in die Unabhängigkeit, es geht voran! Und im Übrigen sind noch genug Ideale übrig, so schnell bin ich schließlich nicht kleinzukriegen!
Schon wieder alles im Umbruch, 27: das Herz herausgerissen für eine Beziehung, die nicht lange genug gehalten hat. Unehrlichkeit finde ich schwer verzeihbar, aber immerhin kann ich die Wohnung behalten. Trotzdem: Jahre der Doppelbelastung von Geldverdienen und Weiterbilden sind endlich vorbei und schon ist es da, das schwarze Loch: was mache ich denn jetzt mit der Zeit??
Eigentlich ziemlich entspannt: zum Diplom ein traumhaftes Motorrad gegönnt, Flirts unerwartet häufig und oft aus unerwarteten Richtungen, hohe Knutsch-Quote, die Wohnung wird zum Zentrum für Freunde, Essenseinladungen, Gäste. Endlich auch wieder mehr Parties, richtig viel Tanzen, Skiurlaube + sehr lustigen Après-Ski, gänzlich neue Sommerurlaubs-Erfahrungen und Reisen quer durch Europa auf der geliebten Triumph. Ja, 27 war Start der Triumph-Zeit und das in vielfacher Hinsicht! Zudem: ist das immer noch so grandios jung, dass man das Leben einfach genießen kann und der Rest wird sich schon finden. Lieblinsmotto: Was nicht geschieht, ist Glück, und was zu dir gehört, kehrt zu dir zurück!
Mit 35 zerbricht manches völlig: Die Entscheidung des Auszugs war goldrichtig. Das Wissen um etliche verfehlte Jahre, in denen wenig voran und nichts dauerhaft gut ging, scheint unerträglich. 35 ist das Alter, in dem frau entweder panisch einen Erzeuger sucht oder sich bereits gegen Heirat, Familie und Träume in weiß entschieden haben muss. Auch das Hausfrauendasein ist nun ungefähr so wahrscheinlich wie ein 6er im Lotto, ohne je einen Lottoschein zu kaufen. Gutmeinende Freundinnen schubsen einen möglichst schnell wieder raus in die Welt, neue Dates, neue Männer ist das Credo. Das einzige, was passiert: Auffinden diverser Single-Profile des Exfreundes, alle datierend aus der gemeinsamen Zeit, die munter im Hintergrund mitgelaufen sind, jahrelang. Nun ist wenigstens die absurde Hoffnung auf ein Happy End unwiderruflich zerstört.
Die Wohnung war ein Glücksgriff ("Ich kann Autos und Wohnungen, Männer kann ich nicht."), die Mädels kommen zur Einweihung und jede Menge Besuch kommt den ganzen Sommer über, was dem Trübsal nur begrenzten Raum lässt. Die Erleichterung wird fast täglich spürbarer: endlich kann ich "meine Stadt" erobern, ausgehen, Touren fahren, Tiefschnee durchpflügen, Sport bis zum Abwinken machen, Möbel kaufen und alles gestalten, wie ich will - ohne, dass einen jemand runterzieht, reinredet, nervt, geizt, bremst, enttäuscht. Und überhaupt lerne ich ab 35 eindeutig noch bessere Leute kennen: tolle Männer, tatkräftige Freunde, unverhoffte Begegnungen. Und endlich, endlich! die Erkenntnis: ohne Anhang und ohne Kinder stehen mir ganz andere Möglichkeiten offen, als ich bisher im Blick hatte! Es dauert noch ein wenig, aber dann setzt sich die neue Freiheit auch als solche durch: ganz andere Urlaube führen zu Entdeckungen, die mir vorher nicht eingefallen wären. Vom Backpacking in fernen Ländern bis zur Alpenüberquerung ohne Motorhilfe, fortan fangen familiär verhaftete Freundinnen an, mich gelegentlich zu beneiden. Noch ein kleines bisschen später folgt als nächster Befreiungsschlag die berufliche Veränderung und damit der Durchbruch zu großer Zufriedenheit. Klar hätte alles anders verlaufen können - aber so, wie es kam, ist es eben auch großartig, was als Erkenntnis langsam aber stetig durchsickert.
Fazit: egal, wie sich das Leben entwickelt: es gibt immer mehrere Sichtweisen und die Kunst besteht nicht in der Suche nach perfekten Umständen, dem perfekten Partner oder dem perfekten Leben. Die Kunst besteht darin, die positiven Aspekte anzunehmen und nicht zu sehr bei den Kehrseiten davon zu verharren.
Das ist auch der Grund, warum die große 4 vor den kleineren Zahlen so willkommen geheißen wurde: viele Fragen, die das Leben unterwegs stellt, sind geklärt. Einige Möglichkeiten verschwinden, geben aber auch den Freiraum, nicht mehr daran zu kleben. Sehr hübsch ist die Randerscheinung, dass der Erwartungsdruck (der von außen und der eigene) spürbar nachlassen - oder die Wahrnehmung davon sinkt einfach, was auch ok ist.
Auch ohne große Riesenfeier und TamTam ist das Erreichen der 4 eine super Sache! Schließlich bin ich lieber eine grandios aussehende 40jährige als eine "für ihr Alter" gutaussehende 39jährige!